Im Schlagloch
Mein Name ist Gunnar Roß und mich fröstelt. Dieser Dezember ist der kälteste seit 40 Jahren und verursacht Straßenschäden in Billiardenhöhe. Schlagloch reiht sich an Schlagloch und hier bei uns in den ländlichen Gebieten ist es mancherorts so schlimm, daß sich Automobilisten, fahrendes Volk und auch die Fußgänger nur noch von Loch zu Loch hangeln können. Manch einer hat sogar eine formschöne Aluleiter dabei um für den Fall des Falles (das ist wörtlich zu nehmen) wieder aus dem Schlagloch steigen zu können.
Wenn man allerdings ohne Leiter in ein Schlagloch gefallen ist — wie mir das gerade vor 3 Tagen passiert ist — hat man unfreiwillig jede Menge freier Zeit zur Verfügung. Diese kann man dann ansprechend gestalten, z. B. mit Nachdenken. Nachdenken kostet außer Lebenszeit nicht viel, hält den Brägen ((Es gibt Leute, die essen Brägen, auch Bregen oder Hirn genannt. Herrgottsakrament, wie kann man nur!)) in Schwung und fördert die interkulturelle Kommunikation mit der eigenen Person. Kommunikation ist wichtig, das weiß jeder, der schon mal eine Woche am Stück geschwiegen hat ((Schweigen liefert sich übrigens zusammen mit Reden jedes Jahr ein Kopf-an-Kopf-Rennen auf meiner Bestenliste der absonderlichsten Tagesfreizeitgestaltungen. In diesem Jahr liegt Schweigen vorn, aber Reden hat für 2011 mit neuen Wörterbüchern aufgerüstet. Es bleibt spannend!)). Als ich also vor 3 Wochen hier ins Loch fiel, kamen mir drei Gedanken in den Sinn. Einer davon betraf meine Anstrengungen auf dem Gebiet der Zebrafinken-Zucht. Der zweite drehte sich um die Kopfbedeckung von Heinz Liskens von der Stadtverwaltung Aachen. Der dritte, und mit Abstand interessanteste Gedanke aber, betraf die Worte des Jahres.
Das offizielle Wort des Jahres 2010 steht bereits fest, es lautet Wutbürger. Ein Unwort des Jahres hat die Gesellschaft für deutsche Sprache noch nicht gekürt. Mein persönliches Unwort des Jahres steht jedoch fest. Ich werde es in einer der folgenden Zeilen mit großem Tamtam, rolllllllendem Trommelwirbel, zwei extra eingefügten Leerzeilen und siegessicherem Lächeln verkünden: Das Roß’sche Unwort des Jahres lautet:
zeitnah
Da steht es vor uns, das Determinativkompositum ((Auch ich mußte nachschlagen. Nachschlagen ist keine Schande, was man vom Draufschlagen getrost auch behaupten kann)) aus Zeit und nah. So klein und unscheinbar, noch so jung und doch schon so verdorben. Das kleine zeitnah kommt immer dann zum Einsatz, wenn es um möglichst bald umzusetzende Aufgaben geht. Erteilt werden diese Art von Aufgaben meist von einer hierar(s)chischen Stufe oberhalb der meinigen, also von Vorgesetzten, Chefs und anderem Gesindel. Was mich an zeitnah so sehr stört, ist neben der Unverbindlichkeit des Wörtchens vor allem auch seine universelle Einsetzbarkeit. Man könnte z. B. — wenn man denn mal muß — ebenso zeitnah ein Abort aufsuchen, wie man sich zeitnah auf dem Jahrmarkt der Gefühle nach einer Lebensabschnittsüberbrückungspartnerin umsehen könnte. Zeitnah ist das perfekte Wort für die Beliebig- und Belanglosigkeit unserer Zeit. Zeitnah ist unverbindlich, dehnbar und es frißt kein Brot. Zeitnah ist der Fluch und der Segen des Kapitalismus. Zeitnah ist nichts und alles zugleich. Zeitnah geht eigentlich immer. Zeitnah ist einsetzbar bis zum bitteren Ende, denn irgendwann werden wir alle zeitnah sterben. Manch einer zeitnah, der nächste zeitnäher, und wieder andere am zeitnächsten.
Ihnen jedoch, liebe Leserin, lieber Leser, wünsche ich zeitnah vor allem Gesundheit und daß sie mir und meiner kleinen absonderlichen Welt des Mind Bowlings gewogen bleiben. Gegen eine Alu-Leiter oder ein Seil hätte ich allerdings auch nichts einzuwenden. Nur bitte — zeitnah! — sollte es sein.