Nachdem ich bereits vor einigen Wochen meinen unerschütterlichen Willen zur Rettung des Vaterlandes aus der Konjunkturkrise bekundet hatte, beschloß ich am Wochenende, diesem Willen durch handfestes Eingreifen Nachdruck zu verleihen. Dazu fuhr ich eine Sonderschicht beim VEB Opel. Hier mein Erlebnisbericht:
4.45 Uhr
Der Wecker schellt. Mit Schwung, Elan und Chuzpe werfe ich meine müden Knochen aus dem Bett. Das wird mein Tag, denke ich so bei mir, während ich zur Kaffeemaschine jumpe und das bereits gestern Abend in weiser Voraussicht bestückte, dampfbetriebene Vorkriegsmodell mit locker-lässigem Daumenschwung anwerfe. Es ruckelt, es dampft, es keucht wie eine Lokomotive — es funktioniert! Während der Kaffee dem Lauf der Schwerkraft über ein kompliziertes Pump- und Brühsystem bis in die Kanne folgt, bewege ich meinen Astralkörper unter meine hochmoderne Wellness-Dusche und vertreibe die letzten müden Morgengeister mit einem Strahl feinsten Arteserwassers.
5.05 Uhr
Der Kaffee ist fertig. Ich nehme einen Schluck und fühle mich wie Superman. Oder wie Adolf Hennecke.
5.10 Uhr
Meine Weltenrettungsmaschine wartet mit laufendem Motor vor meiner Garage. Ich steige ein, schnalle mich an, gebe „RÜSSELSHEIM“ in den Navigationsapparat und schalte auf mordsmäßige Superwarpgeschwindigkeit.
5.11 Uhr
Erhalte während der Fahrt einen Anruf von einem gewissen Ackermann. Braucht Hilfe wegen Krise der Deutschen Bank. Muß absagen, erstmal Opel!
5.12 Uhr
Ich komme in Rüsselsheim an.
5.13 Uhr
Zusammenkunft mit Produktionsleiter des Opel-Werkes. Meine Aufgabe wird die Montage des Beifahrersitzes sein.
5.14 Uhr
Noch eine Minute bis zum Schichtbeginn! Man, bin ich aufgeregt!
5.15 Uhr
Die Werkssirene trötet, die Mitarbeiter der Nachtschicht verlassen ihre Arbeitsplätze. Steige am Band ein und finde mich schnell zurecht. Bis 5.18 Uhr bereits sechs Beifahrersitze montiert!
5.20 Uhr
Schraubenschlüssel fällt mir auf den Fuß. Beiße die Zähne zusammen! Der kriegt mich nicht klein!
9.00 Uhr
Frühstückspause. Bis dato keine weiteren Zwischenfälle. Wir kommen gut voran, habe mich mit meinen Kollegen schon angefreundet. Dennoch leider keine Zeit zum frühstücken; der Parteisekretär wartet schon auf mich.
9.01 Uhr
Treffen mit dem Parteisekretär des Kombinats. Präsentiert mir Merkels Plan zur Opel-Rettung. Bin mit allem einverstanden und schwöre mit rechter Hand auf dem Herzen und der linken auf dem CDU-Parteiprogramm den „bedingungslosen Einsatz für die Volkswirtschaft bis zur Selbstaufgabe“.
9.03 Uhr
Wieder am Band. Pausen sind was für Mädchen oder Gewerkschaftsmitglieder!
11.28 Uhr
Bereits 293 Beifahrersitze montiert. Kombinatsrekord! Bekomme Ehrenplatz für mein Paßbild an der Straße der Besten!
12.00 Uhr
Mittagspause. Siehe 9.03 Uhr.
13.00 Uhr
Einer spontanen Eingebung folgend, besuche ich kurz die Entwurfsabteilung. Zeichne schnell drei neue Modelle aufs Papier: einen Sportwagen, den sich jeder leisten kann (Arbeitsname: Opel GT HartzIV); einen Pickup für den Bauern (Opel Kartofina) und einen Omnibus (Opel Dapassenabervielerein) für meinen persönlichen Größenwahn.
Die Gestaltungsfachkräfte (vormals: Designer) sind irgendwas zwischen überrascht und beeindruckt!
13.03 Uhr
Muß mal austreten.
16.00 Uhr
Feierabend. Eigentlich. Rufe laut in die Werkhalle, daß Feierabend nur was für arbeitsscheues Pack wäre, und wir jetzt alle noch 6 Stunden dranhängen. Begeisterung hält sich in Grenzen. Wer meine Vision nicht teilt, kommt vor die Parteikommission.
22.00 Uhr
3949 Beifahrersitze montiert. Ebensoviele Modelle verlassen die Werkshallen. Ausführung allerdings teilweise unvollständig, da ich deutlich schneller als meine Kollegen war. Da muß wohl die ABI noch mal ran.
23.13 Uhr
Erneuter Anruf von Ackermann. Vertröste ihn auf übermorgen, da für morgen schon Arbeitseinsatz bei Volkswagen geplant. Die schicken ihre Leute extra in Kurzarbeit, so bleibt genug Platz für mich.
23.59 Uhr
Schmeiße mein Weltenrettungsmobil an und fahre auf einen Absacker noch in Ritas Hafenbar.
4.50 Uhr
Wieder zuhause. Rufe noch kurz meine E‑Mails ab. Glückwünsche der CDU-Parteizentrale und Drohbriefe der Opel-Mitarbeiter halten sich die Waage. Morgen Heute wird ein harter Tag, aber was tut man nicht alles für die Konjunktur.
5.03 Uhr
Schlafe schlecht ein, bin irgendwie nicht richtig ausgelastet! Da sind noch Kapazitäten!
9.20 Uhr
Mein Gott, total verschlafen! Und nur Unsinn geträumt! Ich am Band! Beim VEB Opel! Großer Gott!!! Latsche zur Kaffeemaschine, zünd mir eine Zigarette an und muß lachen. Ziemlich sogar.
Auf der Strasse der Besten ins Nirgendwo..haste fein gemacht. we can change the world!
Jetzt hast Du mal wieder das Wunder vollbracht mich zum lachen zu bringen. Wem das gelingt der rettet auch den Staat!
Ich hab mir mal erlaubt, Dich für den Adolf-Hennecke-Gedenkorden vorzuschlagen. Das hast Du Dir verdient alter Nortmbrecher. 😈
„Präsentiert mir Merkels Plan zur Opel-Rettung“ — was meinst du damit?
Nun, mein lieber Herr designer wecker, dazu muß ich etwas ausholen … Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. (Lukasevangelium 2, 1–15)
Davon abgesehen, nehme ich mal stark an, eine Antwort interessiert Dich eigentlich nicht. Du bist nur auf der Suche nach Backlinks für Deine Designer-Wecker-SEO-Seite, ebenso wie für die kostenlosen IPhones, die Aktien-Tipps und den diversen anderen Krempel für den Du verantwortlich zeichnest.
Hm … sieht aus, als hätte Dein Plan nicht funktioniert. Tut mir leid.
Ja, gibs ihm..ich mag deine Antwort sehr gern! So ein wenig Religion gibt einen doch ein bisschen Halt in diesen schweren tagen. Sehr erbaulich.
Vielen lieben Dank für Deine warmen Worte, liebe Jule! Halt, ja Halt, brauchen wir nicht alle ein bißchen Halt? Der Mensch — wie auch immer im einzelnen sein Sein bestimmt werden mag — ist ein Wesen der Distanz, der Abständigkeit von anderem Seienden, von anderen seinesgleichen und sogar von sich selber. Das Erkennen hebt bei einem Abstand vom Erkannten an; der Erkennende setzt sich von dem zu Erkennenden ab. Das Wollen im Gegensatz zum Getriebenwerden ermöglicht sich durch eine Distanz zu dem Gewollten: daß es ihn nicht beherrsche, sondern daß er des Gewollten Herr sei. Das gleiche gilt für das Handeln, sofern der Handelnde in der Abständigkeit von seinem Tun über dessen Zweck und Ziel reflektieren kann. Selbst die Sprache ist eine Weise der Distanzierung; denn das unbenannte Seiende ist das nah Bedrängende und darin allzu Mächtige.Diese Distanzierung, die das Dasein des Menschen durchgängig bestimmt, vollzieht sich eben in der Weise des Fragens und des Fraglichmachens. Schon die Benennung eines Dinges oder eines Vorganges in der Sprache ist Antwort auf die Frage, was denn dieses Ding oder dieser Vorgang ist. Das Handeln erwächst aus der Frage, was zu tun ist und welche Mittel dazu dienlich sind. Das Wollen entspringt aus der Frage, wie man sich entscheiden soll, angesichts der vielfältigen Bedrängung durch Ansprüche, Triebe, Forderungen, Wünsche. Das Erkennen schließlich wurzelt in der Frage, was denn das ist, was sich zeigt. Die Distanz des Menschen konstituiert sich also ursprünglich im Fragen. Der Mensch ist das fragende Wesen schlechthin, und seine Geschichte vollzieht sich im Medium des immer weiter fortschreitenden und jede Antwort überbietenden Fragens. Das aber besagt: Das Philosophieren ist nichts anderes als die Radikalisierung eines grundlegenden Wesensmomentes des Menschen, liebe Jule!
Keine Ahnung ob du das aus irgendwelchen Psychologie Heute oder Schopenhauers Werken zusammenbastelst..aber grandios isses doch. weil irgendwie total überflüssig:)
Jaja, die Überflüssigkeit! Eigentlich ist jeder weitere Kommentar überflüssig, aber wie sagte doch olle Hegel einst so melodramatisch: Diese Geschichte gibt den Grundgegenstand für die religiöse romantische Kunst ab, für welchen aber die Kunst, rein als Kunst genommen, gewissermaßen etwas Überflüssiges wird. Denn die Hauptsache liegt hier in der inneren Gewißheit, der Empfindung und Vorstellung von dieser ewigen Wahrheit, in dem Glauben, der sich das Zeugnis der Wahrheit an und für sich gibt und dadurch ins Innere der Vorstellung hineinverlegt wird. Der entwickelte Glaube nämlich besteht in der unmittelbaren Gewißheit, mit der Vorstellung der Momente dieser Geschichte die Wahrheit selber vor dem Bewußtsein zu haben. Ist es aber das Bewußtsein der Wahrheit, worum es sich handelt, so ist die Schönheit der Erscheinung und die Darstellung das Nebensächliche und Gleichgültigere, denn die Wahrheit ist auch unabhängig von der Kunst für das Bewußtsein vorhanden.
Ich glaube mein Kopf ist gerade explodiert..oder ich hatte die ultimative Erkenntnis..mal schauen. Ich frage mich auch gerade ernsthaft wer Philosophie freiwillig studiert..nicht auszuhalten ist das.
„Mehr Philosophie wagen!“ –
Ein zeitgeistkonträrer Aufruf aus der Passauer Bildungswüste
„‘Worldmindedness‘ is no longer a luxury, but a necessity for survival in the new century“.
David Selby (2003, 147)
Wenn ein Aufsatz mit einem solchen Titel auf einer Homepage veröffentlicht wird, die sich dem Widerstand gegen die geplante Abschaffung eines Lehrstuhls für Philosophie an einer deutschen Universität verschrieben hat, und wenn dieser Aufsatz dann auch noch von einem Mitarbeiter dieses existenziell bedrohten Lehrstuhls stammt, dann liegt natürlich der Verdacht unmittelbar auf der Hand, dass es sich um ein stark tendenziöses, einseitig-parteiisches Pro-paganda-Pamphlet handelt. Aber auch wenn ich die rhetorische Intention dieses Textes gar nicht bestreiten will, möchte ich doch behaupten, dass sich für den Aufruf „Mehr Philosophie wagen!“ eine Reihe von guten und schlüssigen Argumenten anführen lässt, die auch aus sach-lich-distanzierter Perspektive zumindest nachvollziehbar sein können.
Wenn beispielsweise in aktuellen Publikationen zu einem der wohl spannendsten Themen unserer Zeit, dem „Globalen Lernen“ argumentiert wird, das legitime Sicherheitsbedürfnis der Schülerinnen und Schüler könne wegen der Komplexität und Unvorhersagbarkeit globaler Entwicklungen auf der Sachdimension nicht mehr ausreichend befriedigt werden, weshalb die Schülerinnen und Schüler diese Sicherheit wesentlich stärker in der Erfahrung begründen müssen, „ihren Verstand selbstständig einsetzen und gebrauchen zu können“ (Scheunpflug / Schröck, 20022, 16), dann liegt die Verbindung zur Philosophie förmlich auf der Hand. Denn der „Wahlspruch der Aufklärung“ von Menschen zu freien, selbstdenkenden, kritischen und moralisch autonomen Bürgerinnen und Bürgern lautet bekanntlich seit Immanuel Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant, Aufklärung, 53). Und Ähnliches gilt sehr wohl auch für die Forderung, globales Lernen solle „für den Umgang mit Ungewiss-heit, wie sie durch den schnellen sozialen Wandel bedingt ist, für den Umgang mit Unsicher-heit und den Erfahrungen von Nichtwissen qualifizieren“ (Scheunpflug / Schröck, 20022, ebd.). Denn es gehört gleichsam zu den fundamentalen Erfahrungstatsachen der Auseinander-setzung mit philosophischen Fragestellungen, dass es nirgendwo – so sehr dies auch die Ver-fechter jeweiliger philosophischer „Wahrheiten“ beteuern mögen – Eindeutiges, Unumstritte-nes, Festes und Unwiderrufliches gibt, sodass umgekehrt das Umgehen mit und das Aushalten von Ungewissheit, Unsicherheit, Verschiedenheit und Nichtwissen gleichsam zur intellektu-ellen Grundausrüstung philosophisch denkender Menschen zählt.
Gerade im Hinblick auf die weltbürgerliche „Kardinaltugend“ des Aushaltens von Unsicher-heit ist die Bedeutung philosophischen Denkens offensichtlich nicht zu unterschätzen. Denn Philosophie ist nicht zuletzt die (häufig mühselige) „Kunst“ der Selbst-Reflexion bzw. die Kunst, einmal nicht „einfach so“ zu handeln, wie „man“ eben handelt, sondern sich aus dem „Strom“ des Alltäglichen herauszunehmen, sich „daneben“ zu stellen, über diesen „Strom“ sowie sich selbst und sein Handeln in diesem „Strom“ aus einer anderen Perspektive oder auch mehrperspektivisch und kritisch-systematisch zu reflektieren und sich ein eigenständiges Urteil zu bilden.
Philosophie ist zudem die (nicht minder mühselige) Kunst, abstrakt zu denken, auf den ersten Blick heterogene Sachverhalte, vor allem die komplexen Beziehungen zwischen Einzelnem und Allgemeinem sowie „Eigenem“ und „Fremdem“, in ihrer interdependenten Vernetztheit zu erkennen. Insofern beschreibt für philosophisch Denkende Goethes Bild vom „philosophischen Webstuhl“, an dem es unmöglich ist, an einem Faden zu ziehen, ohne zugleich tausend andere zu bewegen, in der Tat eine vertraute, alltägliche Situation. Und davon ausgehend hilft philosophisches Denken nicht zuletzt auch, verstehen zu lernen und einzusehen, wieso viele Fragen und Probleme eben nicht eindeutig, nicht mit simpler binärer Logik, nicht mit einfachen Schwarz-Weiß-Schemata zu beantworten bzw. zu lösen sind und wieso daher – zumal unter den unberechenbaren und höchst dynamischen Bedingungen der Globalisierung und der interkulturellen Vernetzungsprozesse – hinsichtlich vieler Fragen und Probleme eben eine konstitutive Unsicherheit besteht, die es zu realisieren und auszuhalten gilt (vgl. Scheunpflug, 1996, 15 f.). Dementsprechend plädiert auch der Berliner Umweltpädagoge Johann-Wolfgang Landsberg-Becher im Sinne einer „Aufklärung zur Verantwortung“ dafür, dass „Umweltbildung, die zur Verantwortlichkeit … befähigen will, … neben dem Erwerb von Fachwissen und der Entwicklung von Handlungskompetenz durch direktes Erleben auch Möglichkeiten zur Entwicklung von Eigenständigkeit, Selbstreflexion und Selbstverwirklichung schaffen [muss]“ (Landsberg-Becher, 1995, 9). Und die Erziehungswissenschaftler Dietmar Bolscho und Hansjörg Seybold sprechen in ihrem „Studien- und Praxisbuch“ zur „Umweltbildung und ökologische[m] Lernen“ in Anlehnung an Carl Friedrich von Weizsäcker explizit von der „herausragenden Stelle der Philosophie“ für interdisziplinäres, fächerübergreifendes Lernen, das in erster Linie auf die Fähigkeit zur „Mehrperspektivität“ des Denkens abzielt (Bolscho/Seybold 1996, 132 ff.).
Eine ähnliche Konsequenz ergibt sich, wenn man im Hinblick auf die Fragen und Probleme des interkulturellen und „globalen“ Verstehens bedenkt, dass „das Verstehen als andauernder Prozeß gesehen werden [muss], der nicht willkürlich … von einer Seite fixiert, abgebrochen oder aus dem Kontext gerissen werden sollte“ (Fretlöh-Thomas, 2001, 48). Denn dies bedeu-tet zugleich, dass es im immerwährenden (interkulturellen und globalen) Verstehensprozess per definitionem keinen Stillstand gibt, kein endgültiges „Ankommen“, kein definitives Wis-sen um das Gelingen oder Scheitern, und damit auch keine letztgültige Sicherheit – was wie-derum auf die „Tugend“ des Aushaltens von Unsicherheit verweist, die eben durch philoso-phisches Denken systematisch geschult und kultiviert werden kann.
Geradezu originär philosophisch ist auch die Zielsetzung der didaktischen Grundform der Lektion, die für den Mathematikdidaktiker Joachim Schröder darin besteht, „den Schülerinnen und Schülern Fragestellungen zu eröffnen, auf die sie von alleine nicht kommen würden; selbstverständliche Denkweisen und gewohntes Verhalten sollen als fragwürdige erscheinen“ (Schröder, 2005, 305). Denn das Infragestellen des Selbstverständlichen, des Üblichen und Gewohnten, ist eines der zentralen Merkmale philosophischen Denkens seit den Zeiten der Vorsokratiker: „Die Philosophie beginnt mit dem Staunen!“
Auch dann, wenn man vor dem Hintergrund der Antinomie von anthropologischem Realis-mus und humanistischem Idealismus die Vermittlung der Fähigkeit als Zielvorgabe Globalen Lernens und weltbürgerlicher Erziehung definiert, auf der Grundlage „aufgeklärten“, mündi-gen Bürgertums innerhalb einer Nahbereichs-Gemeinschaft zugleich in übergeordneten, komplexen, globalen Dimensionen zu denken und ein entsprechendes soziales Verständnis und Bewusstsein auszubilden, kann man für die Bildungspraxis den Imperativ ableiten: Mehr Philosophie wagen! Und zwar auf allen Ebenen des Bildungssystems von den Grundschulen bis zu den Institutionen der Erwachsenenbildung. Und zwar deshalb, weil die Philosophie bzw. das Einüben philosophischen Denkens in besonderer Weise geeignet ist, die Ausbildung einer solchen komplexen und flexiblen Bewusstseinshaltung anzuregen und als Grundtatbe-stand in das eigene „Weltbild“ zu integrieren.
Was vor dem Hintergrund all dieser Überlegungen und Einsichten von den gegenwärtigen Sparmaßnahmen im „Bildungs“wesen zu halten ist, denen halbe philosophische Fakultäten zum Opfer fallen und in deren Zuge die Universitäten zu so etwas wie „höheren Gymnasien“ oder „besseren Fachhochschulen“ umstrukturiert werden sollen, in denen für vertiefte Refle-xion und selbständiges Nach-Denken praktisch kein Raum mehr bleibt, muss hier nicht näher ausgeführt werden. Aber dass diese Maßnahmen aus der Perspektive der Philosophie nicht als klug und weitsichtig bewertet werden können, auf längere Sicht sogar als kontraproduktiv und gefährlich eingestuft werden müssen, dürfte auf der Hand liegen. Und dass eine schulische und universitäre Erziehung und Bildung, die sich auf die Vermittlung von im engeren Sinn ökonomisch verwertbaren Sach- und Faktenwissen beschränkt, auch nur ansatzweise den Ide-alen der UN-Menschenrechtserklärung und des „Übereinkommen[s] über die Rechte des Kin-des“ der Vereinten Nationen vom 20.11.1989 entsprechen kann, darf bezweifelt werden. Denn hier heißt es, dass die „Völker der Vereinten Nationen“ eingedenk dessen, dass sie in ihrer „Charta ihren Glauben an die Grundrechte und an Würde und Wert des Menschen bekräftigt und beschlossen haben“, es für unerlässlich halten, dass die Kinder „im Geist der in der Char-ta der Vereinten Nationen verkündeten Ideale und insbesondere im Geist des Friedens, der Würde, der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität erzogen werden [sollen]“ (vgl. ÜRK, 19993, 184 f.; vgl. ebd., 197, Art. 29 ÜRK).
Der Faktor der individuellen Identifikation mit welt-relevanten Fragen und Problemen dürfte also eine ebenso entscheidende Rolle spielen wie die Einsicht der „Weltbürger“ in die Tatsache, dass „Kollissionen zwischen konfligierenden Identitäten … in modernen Gesellschaften so wenig zu vermeiden [sind] wie Interferenzen zwischen den unterschiedlichen Lebensformen, in denen diese Identitäten begründet sind“ (Liebsch, 1999, 87). Das Aushalten uneindeutiger und zum Teil sogar miteinander schwer vereinbarer (kollektiver) Identitäten wird demzufolge ebenfalls zu wichtigen „Tugenden“ der Bürgerinnen und Bürger innerhalb der „Weltgesellschaft“ (wie auch innerhalb multikultureller Gesellschaften) zählen. Von entscheidender Bedeutung könnte daher in diesem Zusammenhang das von Friedrun Erben propagierte „reflexive Lernen“ sein, worunter sie genauerhin versteht: „kritisches, vergleichendes und überprüfendes Herangehen an gesellschaftliche, soziale und auch pädagogische Fragen und ein kritisches Überprüfen der Relevanz von Tun und Nicht-Tun in der Gesellschaft“ (Erben, 2000, 153). Was man erneut auf den Punkt bringen könnte: Gefordert ist mehr philosophisches Denken.
Auch wenn man vor dem Hintergrund der Einsicht, dass die Menschen gegenwärtig in aller Regel noch nicht in den globalen Dimensionen denken können, ihnen dafür einfach das soziale Verständnis fehlt, mit Ulrich Beck zu dem Schluss gelangt: „Das Denken muß sich ändern“ (Beck, 1998, 32), liegt die Schlussfolgerung zu einer stärkeren philosophischen Orientierung des gesamten Bildungssystems nahe. Denn zum einen muss die Pädagogik des Globalen Lernens wohl auch anerkennen, dass sich das Denken nur ändern wird, wenn man sich darauf besinnt, dass
„Bildung im breiteren Sinne mehr [bedeutet] als die technische »Neuausrüstung« der Beschäftigten oder die Herausbildung akademischer Schichten oder selbst die Ermutigung einer Industriekultur in den Schulen und Universitäten, um eine produktive Basis zu schaffen. Sie impliziert auch ein tiefes Verständnis für die Gründe der Veränderungen in unserer Welt. Dieses Verständnis muß sich auf die Kenntnis anderer Völker und Kulturen erstrecken, auf deren Haltung zu jenen Veränderungen, auf das, was wir alle gemein haben, und auch auf das, was Kulturen, Klassen und Nationen entzweit. Da wir alle Mitglieder des Weltbürgertums sind, müssen wir uns mit einem ethischen System ausrüsten, mit Gerechtigkeitsgefühl und einem Empfinden für Verhältnismäßigkeit, wenn wir die verschiedenen Methoden betrachten, mit denen wir uns kollektiv oder individuell auf das 21. Jahrhundert vorbereiten.“ (Kennedy, 19933, 432).
Zum Zweiten dürfte klar sein, dass sich das Denken nur ändern kann, wenn die Menschen überhaupt (selber) denken können. In diesem Zusammenhang ist mit Immanuel Kant daran zu erinnern:
„Der Mensch kann entweder bloß dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen, oder würklich aufgeklärt werden.“ (Kant, Pädagogik, 707)
Aber „würkliche Aufklärung“ setzt voraus, dass es in der Erziehung und Bildung eben nicht nur um Sach- und Faktenwissen, nicht bloß um „technische »Neuausrüstung«“ und auch nicht um die fast schon pathologische Fixierung auf „Berufsrelevanz“ gehen darf. Vielmehr kommt es, so Kant, „vorzüglich darauf an, daß Kinder denken lernen“ (Kant, Pädagogik, 707). Nur von solchen Menschen kann man erhoffen und erwarten, dass sie im Zuge ihres „Globalen Lernens“ „auch handlungs- und gestaltungsfähig werden, damit ihnen diese psycho-soziale – und zunehmend globale – Dimension der eigenen Existenz nicht als hinzunehmendes Natur-schicksal, sondern als beeinflussbare Größe erscheint“ (Larcher, 2005, 135). Zugespitzt kann man vielleicht sogar argumentieren: Wenn die Schule (und die Universitäten) zur Erziehung und Bildung mündiger, selbstdenkender Menschen beiträgt, wird sie unweigerlich auch „Glo-bales Lernen“ voranbringen. Denn mündige Menschen, die sich durch die Fähigkeit zu refle-xivem, mehrperspektivischem und mehrdimensionalem Denken, zu Ideologiekritik wie auch zu kritischer Selbstrevision, zum Aushalten von Unsicherheit und der Offenheit vieler Frage-stellungen auszeichnen, werden per se global denkende Menschen sein. Denn in diesem Sinne mündige Menschen nehmen ihre (jeweiligen) Zeitumstände kritisch zur Kenntnis und setzen sich zu diesen kritisch-reflexiv in Beziehung. Und da die Zeitumstände (und mit ihnen zugleich die Lebens- und Überlebensbedingungen) zunehmend „global“ sind, sind mündige Menschen folgerichtig global denkende Menschen, die auch zu konkreten lebens-praktischen Konsequenzen bereit sind, weil ihnen die Relevanz der globalen Probleme und Gefahren für sie, für ihren eigenen lebensweltlichen Nahbereich, nicht nur im Sinne einer rein intellektuel-len Binsenweisheit, sondern auch emotional bewusst ist, ihnen wirklich nahe geht.
Schließlich war und ist Philosophie – sofern sie zu einer negativen Bewertung des Bestehen-den, des jeweiligen status quo gelangt (und sei es „nur“ an der Universität Passau) – immer auch die (ebenfalls mühselige, bisweilen auch gefährliche) Kunst, „quer“ zu denken, im (möglichst) konstruktiven oder kreativen Sinne zu „spinnen“, phantasievolle Zielvorstellun-gen und Orientierungsmuster zu entwickeln, die zumindest als denkbare Auswege aus Welt-bild-Mythen betrachtet werden können, die in eine Sackgasse geführt haben, obsolet oder gar kontraproduktiv und selbstzerstörerisch geworden sind.
Im Zuge dieser Argumentation sollte auch klar werden, dass so verstandene Philosophie kei-neswegs weltentrückter akademischer Denksport ist, keine „abgehobene“ Elfenbeinturm-Disziplin, sondern ganz im Gegenteil etwas im höchsten Maße Lebenspraktisches!
Von diesem Verständnis der Philosophie als lebenspraktischer Disziplin kann man auch sa-gen, dass sie im höchsten Maße von politischem wie auch wirtschaftlichem Nutzen sein kann. Denn wenn man etwa der grundlegenden Erkenntnis der Autorinnen und Autoren der „Werte-kommission — Initiative Werte Bewusste Führung“ zustimmt, wonach „die Frage nach Werten an die Spitze der gesellschaftspolitischen Agenda [gehört]“ (Unger/Hattendorf/Korndörffer, 2006, 29), dann wird man mühelos auch der These zustimmen können, dass die Philosophie an die Spitze der gesellschaftspolitischen Agenda gehört. Diese „Wertekommission“, die sich zum Ziel gesetzt hat, als „neue Führungsgeneration … die Unternehmenswerte von morgen [zu definieren]“, und dazu auffordert, diese Werte (wie Vertrauen, Respekt, Verantwortung, Mut und Courage, Integrität und Nachhaltigkeit) in den Unternehmen mit den Mitarbeitern in einem „dialogorientierten Prozess“ „zu reflektieren“ (ebd., 34 f.), beruft sich dann auch nicht von ungefähr explizit auf die Moralphilosophie Immanuel Kants. Denn dessen kategorischer Imperativ sei zwar „ein hoher Anspruch, keine Frage“; es sei aber zu bedenken:
“Je mehr Menschen sich jedoch anstrengen, ihm zu entsprechen, desto stärker bil-det sich als Kitt der Gesellschaft ein Wertekern heraus, der ihr Kraft und Zu-kunftsmut verleiht.“ (Unger/Hattendorf/Korndörffer, 2006, 37)
Offensichtlich setzt sich auch in dieser „neuen Führungsgeneration“ der Wirtschaft allmählich die Einsicht durch, dass Menschen, die sich „durch ‚mehr Nachdenken und weniger Machen aus[zeichnen]‘“ (Scheunpflug, 2003, 135 ), wesentlich eher in der Lage sind, angemessen auf die Komplexitätsbedingungen der Weltgesellschaft zu reagieren und sich diesen Bedingungen verantwortungsbewusst anzupassen. Und genau darum muss es schließlich gehen.
herrjeh..wer soll das denn lesen? Zu hart!
Hart, auch das ist wieder ein Thema, über das ich stundenlang kopieren und einfügen könnte! Ich gebe aber lieber auf, Du hast gewonnen! Dein Hackfleischigel geht Dir auf dem Postwege zu! Glückwunsch!
Ick freu mir mein Philomisanphilantroph!